30. Jan. 2025

Cycle of Experience: Ein Diagnose-Framework für Organisationen, Teams und Projekte

In der dynamischen Welt der Organisationsentwicklung suchen Führungskräfte und Teams stets nach Möglichkeiten, um ihre Effizienz zu steigern, Herausforderungen zu meistern und nachhaltige Veränderungen einzuleiten.
2024 Marc Riedinger

Autor:in

Marc Riedinger

Ein Luftbild eines mächtigen Strudels im offenen Meer. Die Wasseroberfläche zeigt kreisförmige Bewegungen und Wellen, die sich um das Zentrum des Strudels drehen, wo das Wasser in die Tiefe gezogen wird. Die Farben reichen von tiefem Blau bis zu schimmernden Grüntönen, die durch das Sonnenlicht akzentuiert werden.

Eine hilfreiche Methode dazu ist der „Cycle of Experience“, die ursprünglich aus der Gestalttherapie stammt, aber zunehmend auch in der Organisationsentwicklung angewendet wird. Es ist ein praktisches Diagnose-Framework, das sowohl für die Arbeit mit Teams als auch im Coaching von Führungskräften eingesetzt werden kann, um Schwachstellen und Verbesserungsmöglichkeiten aufzuspüren. 

Was ist der Cycle of Experience? 

Der Cycle of Experience beschreibt den Prozess, durch den Menschen – und in einem größeren Kontext auch Organisationen – gehen, wenn sie auf Bedürfnisse, Herausforderungen oder Veränderungen reagieren. In seiner ursprünglichen Form besteht er aus sechs Phasen: 

  1. Wahrnehmung: Das Bedürfnis oder Problem wird wahrgenommen. 
  2. Bewusstheit: Das Bedürfnis oder Problem wird klar erkannt und benannt. 
  3. Mobilisierung: Es wird Energie aufgebracht, um auf das Bedürfnis oder Problem zu reagieren. 
  4. Handlung: Es wird konkret gehandelt, um das Bedürfnis zu befriedigen oder das Problem zu lösen. 
  5. Kontakt: Die Handlung tritt in Kontakt mit der Umwelt, der entsprechenden Situation oder den betroffenen Personen. 
  6. Abschluss: Das Bedürfnis ist befriedigt bzw. das Problem ist gelöst. 

Dieser Zyklus ist eingebettet in sogenannte Leere, d.h. die Wahrnehmung eines Bedürfnisses oder Problems entsteht aus einem gefühlten Nichts und nach erfolgreichem Abschluss des Zyklus verschwindet das Problem oder Bedürfnis wieder aus dem Bewusstsein. 

In der Praxis zeigt sich, dass Einzelpersonen, Teams oder auch Projekte häufig an unterschiedlichen Stellen des Zyklus hängenbleiben, was zu Ineffizienzen und Blockaden führen kann. Mithilfe des Cycle of Experience lassen sich diese Stellen aufspüren und entsprechend lösen. 

Der Cycle of Experience in der praktischen Anwendung 

Zur praktischen Anwendung in der Arbeit mit Mitarbeitenden, Teams, Projektgruppen und Führungskräften hat sich die folgende Variante des Cycle of Experience bewährt, die etwas handhabbarer und eher auf Gruppen im Arbeitskontext zugeschnitten ist. Im Vergleich zur ursprünglichen Form werden hier Wahrnehmung und Bewusstheit zu einer Phase zusammengefasst, ebenso Handlung und Kontakt. Dazu kommt eine zusätzliche Phase, die der Befriedigung. 

Ein Flussdiagramm, das einen Prozess in drei Hauptphasen darstellt: "Verstehen" in Blau, "Handeln" in Orange und "Abschließen" in Grün. Jede Phase ist durch graue Pfeile verbunden, die die Übergänge "Mobilisierung" und "Befriedigung" darstellen. Die Phasen sind von grauen Bereichen mit der Beschriftung "Leere" umgeben, die den Anfang und das Ende des Prozesses markieren.
  1. Verstehen: Wird das Bedürfnis oder Problem von allen wahrgenommen und gleich verstanden? Wenn nein, sollte ein gemeinsames Verständnis und eine von den Beteiligten geteilte Bewertung der Situation geschaffen werden. Damit kann dann gemeinschaftlich entschieden werden, ob und inwiefern Handlungsbedarf besteht. 
  2. Mobilisierung: Besteht Einigkeit über Handlungsbedarf und es wird nun Energie mobilisiert, um entsprechende Maßnahmen praktisch umzusetzen? Wenn nein, sollten sich die Abstimmungen darauf konzentrieren, Diskussionen über Sinn oder Unsinn des Themas umzulenken auf das, was für das praktische Handeln notwendig ist. Insofern die erste Phase des Verstehens erfolgreich abgeschlossen werden konnte, besteht aktuell keine Notwendigkeit mehr dazu. 
  3. Handeln: Wird im Sinne der Bedürfnisbefriedigung oder der Problembewältigung aktiv gehandelt? Wenn nein, sollte sich auf die Frage konzentriert werden, was uns vom Handeln tatsächlich abhält. Fehlen Mittel oder Fähigkeiten? Verteilen wir die Aufgaben fair und kompetenzorientiert? 
  4. Befriedigung: Stellt sich allmählich ein stärker werdendes Gefühl der Befriedigung ein, weil Bedürfnis oder Problem weniger stark empfunden werden? Wenn nein, sollten wir uns damit beschäftigen, ob unser Handeln wirklich darauf ausgerichtet ist, das Bedürfnis zu befriedigen oder das Problem zu lösen. 
  5. Abschließen: Können wir mit gutem Gefühl das Thema abschließen? Wenn nein, sollten wir überprüfen, was uns noch dazu fehlt, das Bedürfnis zu befriedigen oder das Problem gelöst zu haben. 

Auch in dieser Variante spielt die Leere eine wichtige Rolle: Bei erfolgreichem Durchlaufen des Zyklus spielt das Bedürfnis oder Problem für die Beteiligten nach Abschluss keine dringende Rolle mehr, ist also in der Leere, dem Nichts verschwunden. 

Typische Probleme und Lösungen des Cycle of Experience

Synchronizität: Der Cycle of Experience beschreibt die Phasen einer Bedürfnisbefriedigung oder Problembewältigung, auch für Teams, Projektgruppen oder Organisationen. Allerdings durchlaufen nicht alle Beteiligten sämtliche Phasen synchron. Manche Menschen kommen schneller ins Handeln, andere brauchen mehr Zeit für das Verständnis der Situation. Manche sind schneller als andere zufrieden mit dem Ergebnis und können den Zyklus entsprechend früher für sich abschließen. Dazu kommt ggf. noch eine unterschiedliche Arbeitslast bei den beteiligten Menschen und Aufgaben, die zur Bedürfnisbefriedigung oder Problemlösung bewältigt werden müssen. Auch diese beeinflusst das Tempo, mit dem sich die Beteiligten durch den Zyklus bewegen, selbst ohne Blockaden. Wenn Sie in verantwortlicher Position in Bezug auf das entsprechende Thema sind, machen Sie sich diese Asynchronitäten bewusst und helfen Sie auch den Beteiligten, die unterschiedlichen Tempi zu verstehen, die bspw. einen Projektverlauf beeinflussen. So bekommen Sie mehr Klarheit und vermeiden mögliche Schuldzuweisungen für Verzögerungen im Team. 

Aktionismus: Manchmal auch als Präkrastination benannt, meint dieses Verhalten eine Ungeduld und den Versuch, die Verstehensphase zu überspringen. Anstatt ein gemeinsames Verständnis von Situation und möglichem Handlungsbedarf abzuwarten, wird direkt gehandelt. Das kann einerseits zu ineffektiven Lösungen führen sowie andererseits für Unruhe in Teams sorgen, weil die aktionistischen Menschen die anderen sozusagen überholen oder ausklammern. Neben den unerwünschten Auswirkungen auf die Teamdynamik führen überhastete Problemlösungen häufig nur zu Teil-Lösungen, weswegen das Thema nicht zufriedenstellend abgeschlossen werden kann und oft schon nach kurzer Zeit wieder auf der Agenda steht. 

Prokrastination: Häufiger noch als mit Aktionismus haben insbesondere Teams und größere Organisationseinheiten mit Prokrastination zu kämpfen. Das äußert sich insofern, als dass zu wenig handlungsorientierte Energie mobilisiert werden kann, um Dinge fokussiert und zielgerichtet umzusetzen. Stattdessen stecken die Beteiligten in Diskussionen rund um Sinn- und Verständnisfragen fest, bewerten Chancen und Risiken immer wieder neu, obwohl den Beteiligten eigentlich klar ist, was zum Handeln benötigt wird und dass gehandelt werden sollte. In solchen Fällen kann es helfen, etablierte Strukturen vorsichtig, aber deutlich aufzubrechen. Beispielsweise können Regelmeetings verändert, Projektgruppen neu zusammengesetzt oder Verantwortlichkeiten neu verteilt werden. Allein solche Veränderungen signalisieren den Beteiligten schon einen Wechsel der Routinen und können beim Mobilisieren helfen. 

Nonfinisierung: Dieses Problem tritt auf, wenn sich trotz Handelns keine Bedürfnisbefriedigung einstellt und immer weiter gehandelt wird, obwohl das Problem vielleicht längst gelöst ist. Die Beteiligten tun sich schwer mit dem Abschluss, manchmal auch weil sie Gefallen am Handeln gefunden haben oder stolz darauf sind, dass sie nach mühsamer Mobilisierungsphase endlich einen guten Arbeitsfluss gefunden haben. Das kann für manche Beteiligten erfreulich sein, aber es führt ggf. auch zu schwerwiegenden und kostspieligen Effekten, wie Überregulierungen oder nicht endende Projekte, die immer weiter durch mehr oder weniger hilfreiche Anforderungen aufgebläht werden. Machen Sie sich in einem solchen Fall mit den Beteiligten wieder bewusst, welches Bedürfnis befriedigt oder welches Problem ursprünglich gelöst werden sollte. Wenn neue Bedürfnisse entstanden sind, beginnen Sie den Zyklus mit Ihrem Team bewusst von vorn und schließen zuvor den bestehenden Zyklus ab. 

 Der konkrete Tipp für Führungskräfte 

Der Cycle of Experience kann ein einfaches und mächtiges Werkzeug sein, um Entwicklungsprozesse in Ihrer Organisation zu verstehen und optimieren. Um ihn effektiv anzuwenden, können Sie folgende drei Schritte beachten: 

  1. Reflexion: Nehmen Sie sich regelmäßig Zeit, um über den aktuellen Stand Ihres Projekts oder Ihrer Führungspraxis nachzudenken. In welcher Phase des Cycle of Experience befinden Sie sich? 
  2. Identifikation von Blockaden: Achten Sie darauf, an welcher Stelle des Zyklus Sie oder Ihr Team möglicherweise Schwierigkeiten haben oder ggf. feststecken. 
  3. Gezielte Interventionen: Konzentrieren Sie Abstimmungen mit Ihrem Team auf eben diese Phasen und setzen Sie Maßnahmen dort an, wo sie im Zyklus am meisten Wirkung entfalten. 

Die praktische Arbeit mit dem Cycle of Experience hat einen sehr hohen Moderationsanteil. Insbesondere wenn Sie mit Teams, Abteilungen oder Projektgruppen arbeiten, besteht in jeder Phase die Gefahr abzudriften, Ziele zu verwischen oder zwischen den Phasen hin- und herzupendeln. Wenn Sie, als verantwortliche Person, sich in der Zielausrichtung klar sind und ein gutes Gespür dafür haben, an welcher Stelle des Zyklus Sie sich befinden und was es für den Übergang zur nächsten Phase braucht, können Sie Ihr Team in aller Regel auch gut mitnehmen und moderieren. 

In manchen Fällen kann es auch sinnvoll sein, sich Unterstützung durch externe Moderation und Beratung zu suchen. Wenn Sie daran Interesse haben oder sich dazu austauschen möchten, schreiben Sie mir gern! 

Marc Riedinger

Organisationsberatung und Coaching
2024 Marc Riedinger